Erläuterung zu Artikel 2 des Erbschafts- und Schenkungssteuergesetzes (Art. 2 ESchG):
I. Steuerrechtlicher Wohnsitz/Aufenthalt/Sitz
Das Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht knüpft an den steuerrechtlichen Wohnsitz oder Aufenthalt gemäss Art. 4 StG an. Demgemäss hat eine Person steuerrechtlichen Wohnsitz im Kanton Bern, wenn sie sich im Kanton Bern mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält oder wenn ihr das Bundesrecht hier einen besonderen gesetzlichen Wohnsitz zuweist. Ausschlaggebend ist, wo eine Person ihren Lebens-/Beziehungsmittelpunkt hat (Bauer-Balmelli/Omlin, in: Martin Zweifel/Peter Athanas [Hrsg.], Kommentar zum Schweizerischen Steuerrecht I/2a, Bundesgesetz über die direkte Bundessteuer (DBG), Art. 1-82, 2. Auflage, Basel 2008, N 4 zu Art. 3). Auf formelle Momente, wie die Schriftenhinterlegung, die An- oder Abmeldung, kommt es nicht an. Hält sich eine Person abwechslungsweise an verschiedenen Orten auf, so befindet sich der steuerrechtliche Wohnsitz an jenem Ort, zu dem die stärkeren Beziehungen bestehen (vgl. Höhn/Mäusli, Interkantonales Steuerrecht, 4. Auflage, Bern 2000, S. 91 ff.). Bei unklarem oder streitigem Wohnsitz kann die Steuerverwaltung des Kantons Bern den Wohnsitz mittels anfechtbarer Verfügung festlegen. Der Wohnsitz geht sowohl im interkantonalen als auch im internationalen Verhältnis dem Aufenthalt vor (Leuch/Kästli, Praxiskommentar zum Berner Steuergesetz, Art. 1 bis 125, Muri-Bern, 2006, N 20 zu Art. 4).
Steuerrechtlicher Aufenthalt ist gegeben, wenn sich eine Person ohne Wohnsitz während mindestens 90 Tagen im Kanton Bern aufhält. Übt die Person im Kanton Bern eine Erwerbstätigkeit aus, so hat sie bereits nach 30 Tagen steuerrechtlichen Aufenthalt (Art. 4 Abs. 3 StG).
Keinen Wohnsitz begründet der Besuch einer Lehranstalt oder der Aufenthalt zur Pflege in einer Heilstätte (Art. 4 Abs. 4 StG). Ist der Aufenthalt jedoch auf Dauer angelegt (z.B. Altersheimbewohner), befindet sich der steuerrechtliche Wohnsitz am neuen Aufenthaltsort (vgl. Staehelin in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch II, Hrsg.: Honsell/Vogt/Geiser, 3. Auflage, Basel 2006, N 7 f. zu Art. 23 und N 6 f. zu Art. 26).
Der Sitz von juristischen Personen bestimmt sich nach deren Statuten (Art. 56 ZGB).
II. Nachlasseröffnung
Die nachfolgenden Ausführungen erfolgen unter Vorbehalt von abweichenden staatsvertraglichen Vereinbarungen.
1. Eröffnung des Erbgangs bei bernischem Wohnsitz
Hatte die verstorbene Person mit schweizerischer oder ausländischer Staatsangehörigkeit ihren letzten Wohnsitz im Kanton Bern, so sind gemäss Art. 86 IPRG die bernischen Behörden an diesem letzten Wohnsitz für die Eröffnung des Erbgangs zuständig. Die Eröffnung des Erbgangs erfolgt für die Gesamtheit der Vermögenswerte (Art. 538 Abs. 1 ZGB). Davon ausgenommen ist lediglich der Grundbesitz, wenn der Belegenheitskanton oder Belegenheitsstaat für Grundstücke auf seinem Gebiet die ausschliessliche Zuständigkeit vorsieht. Auf den Nachlass einer verstorbenen Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit mit letztem Wohnsitz in der Schweiz ist schweizerisches Recht anzuwenden (Art. 90 Abs. 1 IPRG), sofern sie nicht durch letztwillige Verfügung oder Erbvertrag den Nachlass ihrem Heimatrecht (Staatsangehörigkeit) unterstellt hat (Art. 90 Abs. 2 IPRG). Diese Wahlmöglichkeit fällt weg, wenn sie die Schweizerische Staatsangehörigkeit erworben hat.
2. Eröffnung des Erbgangs im Kanton Bern bei ausländischem Wohnsitz
Der Erbgang wird gemäss Art. 87 IPRG trotz ausländischem Wohnsitz in der Schweiz eröffnet, wenn die verstorbene Person die Schweizer Staatsangehörigkeit hatte und sich die ausländische Behörde nicht mit ihrem Nachlass befasst (Abs. 1) oder wenn die verstorbene Person ihr in der Schweiz gelegenes Vermögen oder ihren gesamten Nachlass (mit Ausnahme der ausländischen Grundstücke, sofern der Belegenheitsstaat seine ausschliessliche Zuständigkeit vorsieht) durch letztwillige Verfügung oder Erbvertrag der schweizerischen Zuständigkeit oder dem schweizerischen Recht unterstellt hat (Abs. 2). Zuständig für die Eröffnung des Erbgangs sind in diesen Fällen die Behörden am (bernischen) Heimatort der verstorbenen Person. Laut Art. 91 IPRG ist in einem solchen Fall schweizerisches Recht anzuwenden, es sei denn, die verstorbene Person habe in der letztwilligen Verfügung oder im Erbvertrag ausdrücklich das Recht ihres letzten Wohnsitzes vorbehalten.
Gemäss Art. 88 IPRG wird der Erbgang einer verstorbenen Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit und ohne schweizerischen Wohnsitz für den in der Schweiz gelegenen Nachlass durch die Schweizer Behörden am Ort der gelegenen Sache eröffnet, wenn sich die ausländischen Behörden nicht damit befassen. Befindet sich Vermögen an mehreren schweizerischen Orten, so sind die zuerst angerufenen Behörden zuständig.
3. Eröffnung des Erbgangs bei Verschollenen
Gilt der Tod einer Person als wahrscheinlich, weil sie in hoher Todesgefahr verschwunden oder seit langem nachrichtenlos abwesend ist, kann ein Gericht auf Gesuch jener Personen, die aus dem Tod Rechte ableiten können, die verschwundene Person für verschollen erklären (Art. 35 ZGB). Zuständig für die Verschollenerklärung ist der Richter am letzten bekannten schweizerischen Wohnsitz des Verschollenen (Art. 21 der Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008) ZPO; SR 272, Art. 41 IPRG. Nach der Verschollenerklärung wird der Erbgang durch die Behörden am letzten bekannten Wohnsitz der verschollenen Person eröffnet (Nägeli in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, Honsell/Vogt/Geiser [Hrsg.], 3. Auflage, Basel 2006, N 6 zu Art. 38). Die Verschollenenerklärung wird auf den Zeitpunkt der Todesgefahr oder letzten Nachricht zurückbezogen. Erbrechtliche Ansprüche sind ebenfalls auf diesen Zeitpunkt zurück zu beurteilen.
III. Übertragung von im Kanton Bern gelegenen Grundstücken oder Rechten an solchen
Wird im Kanton Bern gelegener Grundbesitz oder Rechte an solchem unentgeltlich übertragen, ist nicht der Wohnsitz der verstorbenen oder schenkenden Person Anknüpfungspunkt für die Steuerhoheit des Kantons Bern, sondern der Ort der gelegenen Sache.
Der Begriff des Grundstücks bestimmt sich nach Art. 655 ZGB. Zu den Grundstücken zählen demnach Liegenschaften, die in das Grundbuch aufgenommenen selbstständigen und dauernden Rechte, die Bergwerke sowie die Miteigentumsanteile an Grundstücken.
Aufgrund der unterschiedlichen Anknüpfungspunkte (Wohnsitz/Grundstück) ist es möglich, dass bei internationalen oder interkantonalen Sachverhalten die Steuerhoheit von mehreren Kantonen bzw. Staaten beansprucht wird. In diesen Fällen erfolgt eine internationale bzw. interkantonale Steuerausscheidung.
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Fassung vom 06.11.2013